Sozialstaat

Auszug aus dem Leitantrag des AfA-Bundesvorstandes „Menschenwürdig leben und arbeiten“, beschlossen auf der Bundeskonferenz im April 2006

Der Sozialstaat ist eine Errungenschaft der Moderne. Die hohe Akzeptanz und breite Wertschätzung des Sozialstaats ist darin begründet, dass er für sozialen Ausgleich sorgt, „inneren“ Frieden garantiert und ökonomisches Wachstum stärkt. Der Sozialstaat ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe und sichert soziale Teilhabe. Wesentliches Kennzeichen des Sozialstaates ist, dass er zur sozialen Integration beiträgt, demokratische Entwicklungen stabilisiert und den politischen Prozess zivilisiert.

Heute sieht sich der Sozialstaat mit massiver Kritik konfrontiert. Die Leistungen seien zu hoch und böten zu wenig Anreize, eine Erwerbstätigkeit anzunehmen. Der Sozialstaat sei ausgeufert und die „Rundumversorgung“ verleite die Menschen zu einer Vollkaskomentalität. Für die radikale Sozialstaatskritik ist der Sozialstaat vom Problemlöser zum eigentlichen Problemverstärker geworden.

Die Kritik betrifft mittlerweile nicht mehr ausschließlich soziale Transferleistungen. Im Zuge der Diskussion über die Auswirkungen der globalisierten Wirtschaft und ihrer Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen sind viele Standards und Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedroht, die über Jahrzehnte durch die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften erkämpft wurden. Vielen Arbeitgebern ist kein Lohn ist zu niedrig, kein Sozial- oder Beteiligungsstandard der Arbeitnehmerschaft zu gering, als das er nicht noch unterboten werden könnte. In trauter Eintracht haben Arbeitgeberfunktionäre und Wirtschaftswissenschaftler eine Spirale nach unten in Gang gesetzt, die anscheinend kein Ende findet. Am Ende steht meist die unverhohlene Drohung mit der Standortverlagerung der Unternehmen ins Ausland, die zunehmend auch wahr gemacht wird. Es gibt kein Tabu mehr.

Mit der sozialen und ökonomischen Wirklichkeit Deutschlands hat die neoliberale Diskussion nichts zu tun. Im Gegenteil. Die eingeleitete Abwärtsspirale bedroht den sozialen Grundkonsens unserer Gesellschaft, der unser Land wirtschaftlich und sozial stark gemacht hat. Es ist daher ureigene Aufgabe von Sozialdemokraten, dieser Entwicklung entgegen zu wirken und eine alternative Politik anzubieten, in deren Mittelpunkt der Mensch steht.

Unser Sozialstaatsverständnis

Leitlinien des deutschen Sozialstaates sind die Prinzipien der Solidarität und der Subsidiarität. Die Menschen sollen ausreichenden Schutz vor den großen Lebensrisiken Armut und Altersarmut, Krankheit und Arbeitslosigkeit erhalten. Eine wesentliche Funktion unseres Sozialstaates ist es, den Menschen Sicherheit zu geben. Denn soziale Sicherheit ist Voraussetzung für die freie Entfaltung des Menschen und die Fähigkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Nach dem Verständnis von Sozialdemokraten hat der Sozialstaat mehrere Funktionen:

  • Der Sozialstaat soll eingreifen, helfen und unterstützen, wenn Menschen in Notlagen geraten.
  • Der Sozialstaat soll soziale und ökonomische Teilhabechancen für alle Bürgerinnen und Bürger gewährleisten.
  • Der Sozialstaat soll dazu beitragen, ökonomisch und geschlechtsspezifisch bedingte Ungleichheiten und Ausgrenzungen zu beseitigen.
  • Der Sozialstaat muss in die Zukunft der nachwachsenden Generationen investieren.
  • Der Sozialstaat soll eine Kultur der gleichen Augenhöhe der Sozialpartner und der Mitbestimmung gewährleisten.

    Insofern wäre eine Beschränkung des Sozialstaates auf die Rolle des Reparaturbetriebes kapitalistischer Wirtschaftsweise verkürzt. Der Sozialstaat hat aus sozialdemokratischer Sicht immer auch emanzipatorischen, partizipatorischen und investiven Charakter. Neben der Freiheit von Armut und Ausgrenzung ist unser Ziel immer auch die Befähigung für ein selbstbestimmtes Leben gewesen. Hier muss der Staat Rahmenbedingungen schaffen.

    Verantwortlich für die soziale Ausgestaltung unserer Gesellschaft ist nicht allein der Staat. Verantwortung tragen ebenso die Unternehmen und die Menschen selbst. Die ehrenamtliche Arbeit vieler Menschen in Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Gewerkschaften und vielen privaten Initiativen sind unverzichtbarer Bestandteil unseres Sozialstaates. Sie können aber die Verantwortung eines institutionellen Rahmens sozialer Sicherung nicht ersetzen und dürfen nicht als Instrument zum Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung missbraucht werden.

    Entwicklungstendenzen des Sozialstaates in Deutschland

    Viele der gängigen Thesen der radikalen Sozialstaatskritik über ausufernde Kosten stehen empirisch auf schwachen Beinen:

    Die Sozialleistungsquoten (der Anteil der Sozialleistungen am BIP) sind in den letzten 25 Jahren weitgehend stabil geblieben. 1981 lag die Sozialleistungsquote bei 31 Prozent, 2002 lag sie bei 32,5 Prozent.

    Von einer Explosion der Kosten kann keine Rede sein. Der Anteil der Rentenausgaben für Alter und Hinterbliebene lag 1981 bei 12 Prozent des BIP, 2002 bei 12,3 Prozent. Der Anteil der Gesundheitsausgaben lag 1981 bei 10,2 Prozent, 2002 bei 11,1 Prozent. Der Anteil der Sozialleistungsquote für Beschäftigung lag 1993 bei 3,5 Prozent, 2002 bei 3,2 Prozent, ist also sogar gesunken, obwohl die Arbeitslosigkeit in den 90er Jahren massiv angestiegen ist.

    Die Debatte über zu hohe Sozialleistungen hat im Wesentlichen zu Leistungskürzungen in der Sozialversicherung geführt. Die Schwächung der vorgeschalteten Sicherungssysteme führte wiederum zu einem Anstieg der Sozialhilfeempfänger. Die Sozialhilfe, ursprünglich als letzter Rettungsanker konzipiert, hatte sich bis Ende 2004 zu einem gigantischen Hilfesystem entwickelt und findet nun in der Grundsicherung für Arbeitssuchende ihre Fortsetzung. Die meisten vermeintlichen Reformmaßnahmen und Einsparbemühungen haben letztlich nur zu einer Umverteilung der Kosten für soziale Notlagen geführt.

    Der zweite Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung weist nach, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander gedriftet ist. 13,5 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Besonders beschämend ist, dass 1,5 Millionen Kinder unter Armutsbedingungen leben. Eine Langzeitstudie der Arbeiterwohlfahrt (AWO) aus dem Jahr 2005 weist nach, dass Kinder aus armen Familien deutlich schlechtere Bildungschancen haben. Die zunehmende soziale Schieflage unserer Gesellschaft berührt damit nicht nur das Sozialstaatsprinzip der Chancengleichheit und der Verhinderung von Ausgrenzung, sie gefährdet auch Zukunftsperspektiven unseres Landes.

    Richtig ist allerdings, dass die Beitragssätze zur Sozialversicherung in den letzten 20 Jahren deutlich angestiegen sind. Ursächlich sind aber nicht ausufernde soziale Leistungen. Wesentliche Ursache für die aktuellen Finanzierungsprobleme unserer Sozialversicherung sind die massiven Beitragsausfälle durch Massenarbeitslosigkeit, die sinkende Lohnquote und der fortgesetzte Abbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Die zukunftsgerechte Weiterentwicklung des Sozialstaates erfordert daher vorrangig Strategien zur Lösung der Probleme auf dem Arbeitsmarkt.

    Dresdener Erklärung des AfA-Bundesvorstandes (2003)

    Den Sozialstaat erhalten und fortentwickeln

    Der AfA-Bundesvorstand nimmt mit Sorge zur Kenntnis, dass der breite gesellschaftliche Konsens über die Rolle des Sozialstaates zunehmend zerbricht. Der Sozialstaat bundesdeutscher Prägung hat entscheidend zum Erfolg der deutschen Wirtschaft beigetragen und ist Fundament unserer demokratischen Entwicklung. Der Zusammenhalt einer Gesellschaft ist nicht das Ergebnis ökonomischer Prozesse, sondern das Ergebnis gemeinsamer Wertvorstellungen.

    Es ist richtig, dass erwirtschaftet werden muss, was zur Verteilung ansteht. Richtig ist aber auch, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer den Wohlstand unserer Gesellschaft erwirtschaften. Es ist daher geradezu widersinnig, dass fast täglich neue Vorschläge auftauchen, die alle eines gemeinsam haben: die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu beschneiden und soziale Leistungen abzubauen. Es ist bezeichnend, dass das Schlagwort „keine Tabus“ immer nur die Rechte der Arbeitnehmer betrifft, nicht aber die Besitzstände der ohnehin Bessergestellten unserer Gesellschaft.

    Der AfA-Bundesvorstand fordert alle Verantwortlichen der Sozialdemokratischen Partei auf, diesen unverantwortlichen Weg nicht zu beschreiten.

    Alte Zöpfe wie die Aufweichung des Kündigungsschutzes haben noch nie Arbeitsplätze gesichert, geschweige denn geschaffen. Bestehende Regelungen durch Probezeiten, befristete Beschäftigungsverhältnisse und die Ausdehnung der Leiharbeit bieten genügend Flexibilität. Es macht keinen Sinn, mehr Verunsicherung in die Betriebe zu tragen und zwei Klassen von Beschäftigten mit und ohne Kündigungsschutz in ein und demselben Betrieb zu schaffen. Ebenso falsch sind alle Maßnahmen, die der Auflösung der Flächentarifverträge Vorschub leisten. Tarifautonomie und Flächentarifverträge sind elementare Grundlagen des sozialen Friedens und Voraussetzung für Verlässlichkeit und wirtschaftlichen Erfolg.

    Nicht dauernde Verunsicherung, sondern klare Orientierung ist die Basis für die Lösung der Probleme auf dem Arbeitsmarkt und sachgerechte Reformen der sozialen Sicherungssysteme. Das Regierungsprogramm der SPD hat hier deutliche Schwerpunkte gesetzt, die Maßstab des Handelns sein müssen:

  • ein beschäftigungspolitisches Gesamtkonzept, das vorrangig auf die Ausweitung der Investitionstätigkeit setzt und den Mittelstand durch finanzielle Förderprogramme unterstützt.
  • die Sicherung der Arbeitnehmerrechte und die Stärkung der Tarifautonomie.
  • die Entwicklung intelligenter Arbeitszeitmodelle.
  • die gerechte Besteuerung des Einkommens aus Arbeit und Vermögen nach Leistungsfähigkeit.
  • die Stärkung der sozialen Sicherungssysteme und die Absage an die Privatisierung der allgemeinen Lebensrisiken.

    Sozialdemokratische Reformpolitik hatte immer das Ziel, den Menschen zu nützen und dem Allgemeinwohl zu dienen. Sie unterscheidet sich damit von Konservativen und Liberalen, die in erster Linie Partikularinteressen verfolgen. Dies wieder in den Vordergrund zu rücken ist wesentliche Voraussetzung für die strukturelle Mehrheitsfähigkeit der SPD.